Teil 3 von "MSA-C - individuell"
Im ersten Teil habe ich euch einen Einblick in die Anfänge meiner
gegeben, die vor allem von der stetigen Abnahme meiner Sprech- und geprägt war. Anschließend könnt ihr im zweiten Teil mehr über den Verlauf meiner Leistungs- und Belastungsfähigkeit lesen. Zum Abschluss gebe ich euch einen Einblick in mein Sozialverhalten.
Das Interesse an Mitmenschen geht verloren
Parkinson beginnt – das ergaben meine Internet-Recherchen – häufig mit Depressionen (1), wahrscheinlich durch den gestörten Dopamin-Stoffwechsel (2) im Gehirn. Bevor durch die Phase der Schwindelattacken und durch meine nicht mehr zu verbergende Sprechstörung für mich und mein soziales Umfeld mein Erkrankt Sein klar war, kam der Interesseverlust an anderen Menschen. Ich vermied Unterhaltungen im Lehrerzimmer mit Kolleginnen und Kollegen. In den Vormittags- und Mittagspausen in der Schule war ich meist damit beschäftigt, meine Unterrichtsmaterialien für die nächsten Stunden zusammenzusuchen und die der gerade überstandenen auszusortieren oder ich saß einfach nur apathisch auf meinem Platz in der hintersten Ecke des Lehrerzimmers. Dabei kam ich mir vor, als spielten sich die Unterhaltungen der anderen hinter einer undurchdringbaren gläsernen Wand ab. Im Unterricht half ich mir mit Gruppenarbeiten, längeren Textlektüren und umfangreichen Arbeitsblättern, also mit allem, was meine Kommunikation nicht erforderlich machte.
Wie sich verstecken und müde sein zusammengehören
Bei Konferenzen war ich physisch anwesend. Meist blieben mir Grund, Sinn und Inhalt weitgehend verborgen. Schlimmstenfalls musste ich damit kämpfen, nicht einzuschlafen. Dennoch fielen mir meist die Augen zu. Noch heute bin ich jeder und jedem dankbar, die oder der dies allenfalls mit einer humorigen Bemerkung kommentierte. Dabei könnte man es mit Fug und Recht als respektlos ansehen, das Engagement der Kolleginnen und Kollegen zu verschlafen.
Heute weiß ich, dass Gähn- und Müdigkeitsattacken, ähnlich dem Krankheitsbild „Fatigue“ (3), häufige Symptome für MSA sind. Den Gähnanfällen, die unbarmherzig den eigenen Redefluss verhindern, bin ich inzwischen hilflos ausgeliefert.
Mit Veranstaltungen, die stundenlanges Stillsitzen erfordern – mit Ausnahme Gänge zur Toilette oder zum Kuchenbuffet oder zum Kaffeewagen – hatte ich immer schon allergrößte Schwierigkeiten. Entweder habe ich, wie zu meinen eigenen Schulzeiten, unter der Tischplatte, um nicht sofort erwischt zu werden, gelesen und Hausaufgaben gemacht, später. selbst im Schuldienst, Klausuren korrigiert und Unterricht vorbereitet, oder ich habe gestrickt. Außerdem perfektionierte ich alles, was dazu diente, als Schreiberin von Sitzungsprotokollen, als potenzielles Mitglied von Arbeitsgruppen, Gremien, Ausschüssen u. Ä. grundsätzlich übergangen zu werden. Ich wurde zur Meisterin darin, mich vor Verantwortung und Engagement wegzuducken.
Dabei hatte ich noch in den ersten drei Jahren meines Schuldienstes in Wissen mit der Abteilung Hauswirtschaft jährlich Benefizessen organisiert und auch erfolgreich durchgeführt – abgesehen von bürokratischen Verfahrensfehlern – haarsträubend aus der Sicht des Schulleiters, vorauseilend verziehen von mir selbst.
Die Qual sozialer Kontakte
Waren Joachim und ich eingeladen, saß ich meist stumm dabei, während mein lieber Mann auf dem Nachhauseweg freudestrahlend zu berichten wusste, mit jedem der Gäste gesprochen zu haben.
Als ich – es muss 2016 oder 2017 gewesen sein – in Berlin war zu Besuch bei unserer jüngeren Tochter und ihrer Familie, wurde es fast gruselig. Während Enkelin Raphaela fröhlich durch die Wohnung tobte und Papa und Mama mit ihrem Kleinkindcharme entzückte, saß ich im Wohnzimmer herum wie ein abgestellter Gegenstand. Ich litt unter einem ständigen Zwiespalt: Einerseits war mein Bedürfnis groß, dazuzugehören, mitzumischen und mich einzubringen, andererseits wurden Interaktionen mit meinen Mitmenschen ungeachtet von Situation und Umfeld zur quälenden Überforderung.
Scheidung in der Familie
Von Mitte Oktober bis Mitte November 2017 war ich in einer psychosomatischen Privatklinik. Meine Ziele dieses Aufenthaltes waren, der konstruktive Umgang mit meinen Depressionen und zwei seelisch belastende Ereignisse:
Unsere ältere Tochter hatte im Frühjahr Knall auf Fall Mann und Kind verlassen wegen eines Mannes, der sich Zeit seines Lebens weigerte, Verantwortung fürs eigene Tun zu übernehmen, gesellschaftliche Regeln und Pflichten zu erfüllen. Eigentlich war unsere Tochter ihm ähnlich. Aber wir hatten geglaubt und gehofft, die Ehe mit einem guten Mann aus soliden Familienverhältnissen und das gemeinsame Töchterchen hätten bewirkt, dass sie ihren Platz im Leben gefunden hätte. Sie trat das alles in die Tonne für einen Mann, der nichts zu bieten hatte.
Der Abschied vom Vater
April 2013 starb mein Vater nach längerem Siechtum.
Emotional hat mich sein Tod kein bisschen berührt. Er starb – besser gesagt, er hörte auf zu siechen – ohne ein Zeichen oder ein Wort der Liebe oder des väterlichen Segens für seine Frau und seine Kinder. Bis zum Schluss bestritt er die Möglichkeit, sterben zu müssen. Bis zuletzt bewahrte er das bestgehütete Familiengeheimnis aller Zeiten: das geheim gehaltene Testament, das er mit seiner Frau und seinem jüngsten Sohn verfasst hatte.
Der Abschied von der Mutter
Etwa drei Monate nach seinem Tod sandte das Nachlassgericht uns drei Kindern das Testament unserer Eltern zu. Aus ihm ging hervor, dass das Elternhaus zusammen mit einem großen Grundstück bereits 2001 dem jüngsten Sohn unserer Eltern überschrieben worden war. Für meinen älteren Bruder und für mich waren zwei kleinere Grundstücke mit jeweils baufälligen Immobilien bestimmt, beide durch einen Schotterweg mit Wegerecht voneinander getrennt. Wir mussten dafür sorgen, dass unser jüngerer Bruder jederzeit über diesen Weg seine Grundstücke erreichen konnte. Das jüngste Kind unserer Eltern bekam Herzstück und Löwenanteil des elterlichen Besitzes. Als ich meine Mutter in unserem letzten Telefongespräch nach einer Begründung für diese deutliche Ungleichbehandlung ihrer drei Kinder fragte, antwortete sie, das Elternhaus solle in der Familie bleiben. „Familie“ war demnach ihr Jüngster. Ihre beiden älteren Kinder waren außen vor. Meine letzten Worte, die sie von mir (am Telefon) zu hören bekam: „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
Das war es – etwa dreieinhalb Jahre vor ihrem Tod. Wir haben nichts mehr voneinander gehört. Selten hatten wir uns wirklich gut verstanden. Meist klapperte ich schweigend mit meinen Stricknadeln, während sie, ihr Wortgift verspritzend, mich mit der Gülle aller möglichen Verwürfe überschüttete. Endlich waren wir uns darin einig, unsere toxische Beziehung zu beenden. Endlich gab es zwischen uns Übereinstimmung. Zu ihrer Beerdigung im Januar 2017 ging ich nicht – mein älterer Bruder auch nicht. Was folgte war, dass wir beiden älteren Kinder das väterliche Nachlassverzeichnis einforderten. Wir schalteten Anwälte ein, mussten vor Gericht das Verzeichnis einklagen und hatten es mit einem Briefwechsel seitens der Gegenseite zu tun, der an Gehässigkeit nichts ausließ. Die gerichtliche Auseinandersetzung verlief „von Todes wegen“ im Sande.
Erreicht haben wir die lediglich die Auszahlung unseres Pflichtteils (4), dessen Berechnung sich noch nicht einmal unseren erfahrenen Anwälten erschloss.
Bewertung und Einordnung
Bis heutigen Tags habe ich meinen Eltern weder eine Träne nachgeweint noch haben mich Gewissensbisse wegen ausbleibender Trauergefühle und wegen des Kontaktabbruches zu meiner Mutter geplagt. Denke ich an meine Eltern, dann geschieht es ohne eine Spur von Trauer und Liebe. Da ist ein großes Loch in meinen Gefühlen. Aber seitdem fühle ich mich frei, hin und wieder kommt Ärger hoch, dass ich unseren Eltern viel zu lange die Stange gehalten habe.
Der Rückblick auf unsere fünfeinhalb Jahrzehnte lange Eltern-Kind-Beziehung zeigt, wie sehr dieses toxische Verhältnis zwischen mir und allem gestanden hat, was zu meinem familiären, sozialen und beruflichen Umfeld und zu meiner Lebenswirklichkeit gehörte.
Ich schreibe dies nicht, um meinen Eltern die Alleinschuld zuzuweisen, sondern, weil ich erkennen muss, selbst als Erwachsene meiner Selbstverantwortung nicht gerecht geworden zu sein. Ich tat alles, um anderen zu beweisen, dass ich liebesfähig und liebenswert bin. Mein sehnlichster Wunsch war die gegenseitige Liebe zwischen mir und den beiden Menschen, die mich ins Leben gerufen haben.
Ich habe mich bis zu besagtem Telefongespräch geweigert, mich von der Sehnsucht nach gegenseitiger Liebe zu verabschieden. Ich habe es verleugnet, ein ungeliebtes Kind zu sein. So verlief der Abschied von meinen verstorbenen Eltern ganz anders als bei den meisten Menschen.
Berufsende und Krankheitsbeginn
Am Freitag, dem 29. September 2017 hielt ich meine letzten regulären Unterrichtsstunden. Mit zwei Blechen Obstkuchen für mein Kollegium feierte ich meinen 58. Geburtstag vor. Tags drauf, an meinem Geburtstag, begannen in Rheinland-Pfalz die zweiwöchigen Herbstferien, unmittelbar danach am 15. Oktober 2017 mein vierwöchiger Klinikaufenthalt.
Als ich am 1011.2017 spät abends zurückkam, empfingen mich unsere beiden Söhne. Joachim kehrte erst am nächsten Tag von einem Chorwochenende heim.
In der Nacht meiner Heimkehr bekam ich meine erste Schwindelattacke. Zwei Tage später wies mich unsere Hausärztin ins Krankenhaus ein. Wegen meiner verwaschenen Sprache vermutete sie einen Schlaganfall. Anfang Dezember sollte ich mit der Eingliederung nach fast zweimonatiger Krankschreibung beginnen. Sie scheiterte an weiteren Schwindelattacken. Im Frühjahr 2018 zeichnete sich dann das Ende meines Berufslebens ab.
Schlussfolgerung
Der Grund, warum ich hier so weit ausgeholt habe, ist, dass sich von da an meine Beziehungen zu anderen Menschen ohne eigenes mühendes Zutun änderten.
Das Ende meines Berufslebens und meine unaufhaltsam fortschreitende Erkrankung erlebte und erlebe ich immer noch ambivalent und zwiespältig. Einerseits sah ich schon lange keine Möglichkeit mehr, meinen Schuldienst fortzusetzen. Das geht deutlich aus meinen Schilderungen hervor. Andererseits hätte es sich schlecht angefühlt zu gehen. Meine Widersacher hätten sich bestätigt gefühlt. Sie waren zwar längst aus meinem Gesichtskreis verschwunden. Aber ihre Stimmen waren in meinem Inneren noch hörbar.
Ich hatte endlich eine feste Stelle, war gewählt und eingeführt worden, hätte mir keine besseren Kolleginnen und Kollegen vorstellen können, und dann gehe ich? Bei dem Gedanken kam ich mir undankbar vor. Innerlich war ich blockiert. Ich hatte keinen Plan, wie ich ohne Beruf meine Zeit gestalte. Und es passte einfach nicht zu meinem Selbstbild. Auch die heftigsten zeitlichen und seelischen Überforderungen hatte ich bisher heil überstanden – und jetzt diese unüberwindbare Grenze!
Einige Monate vor meinem Dienstantritt in Wissen, ging Joachim in die Freistellungsphase – das war wie ein vorzeitiger Ruhestand mit 61. Acht Jahre lang hatten wir die Rollen getauscht. Ich war berufstätig und Joachim machte die Care-Arbeit. Wow! Endlich waren wir auf der Höhe der Zeit – ein modernes Paar!
Und das sollte jetzt nicht mehr sein?
Im August 2018 wurde ich aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand verabschiedet. Ich war über die Herzlichkeit, mit der ich verabschiedet wurde, überrascht und zu meinem Erstaunen lösten sich meine Einwände in Luft auf – ja, ich fühlte mich befreit von den Stimmen der Widersacher, von dem Gefühl, denen, die mich unterstützt haben, nicht genug Wertschätzung entgegenzubringen, vor allem befreit von dem Ehrgeiz, jede Herausforderung meistern und jede Last tragen zu können. Wenn ich über diesen Lebenseinschnitt nachdenke, so entdecke ich Parallelen dazu, wie es mir seit dem Tod meiner Eltern geht: besser und freier! Ich bin häufiger denn je mit ehemaligen Kolleginnen und Freunden verabredet. Die Gespräche haben an Tiefgang gewonnen. Meine Erkrankung hat aus mir keinen verbitterten Menschen gemacht. Sie ist ein langsam größer werdender Teil von mir. Aber oft hat sie nur eine Nebenrolle, meistens, wenn ich tun kann, was ich liebe: Ausgehen, mich mit Menschen treffen, Feste feiern.
Manches tut natürlich auch richtig weh: Fotos und Kataloge von Wanderurlauben anschauen, von Menschen zu hören, die ein Vierteljahrhundert älter sind und noch wichtige Aufgaben wahrnehmen, wegen der Treppen kaum Privatbesuche machen zu können.
Dennoch ist mein Leben entspannter.
Ich bin von Menschen umgeben, durch die ich erfahre, was Liebe ist. Ich spüre bei mir selbst, was es heißt zu lieben. Und für all das muss ich nichts tun. Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Befreiung (die ja in meinem Fall nicht ganz freiwillig geschah) und Liebe, die jetzt einfach da ist (ohne Vorsatz, ohne Anstrengung, ohne eigenes Mühen). Aber letztlich wird hier eine Erklärungslücke bleiben. Das nennt man dann Unverfügbarkeit von Leben und Liebe.
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Erläuterungen
Die nummerierten Wörter werden am Ende eines jeden Textes oder Textabschnittes erklärt. Mit einem Klick auf die Zahl hinter dem Wirt, gelangt man sofort zur Erklärung.
(1) Depression
Eine geeignete und verständliche Erläuterung dieser psychischen Erkrankung liefert ein entsprechender Artikel der schon erwähnten Online-Zeitschrift. Unerwähnt in ihm bleibt aber, dass Depressionen eines der Symptome des Morbus Parkinson und der atypischen Parkinson-Erkrankungen sind.
Depressionen Von William Coryell, , MD, University of Iowa Carver College of Medicine, März 2020
(2) Dopamin (Stoffwechsel)
Bei MSA wird nicht einfach zu wenig Dopamin produziert, sondern die Dopamin-Rezeptoren sind nicht mehr vorhanden. Daher lässt die Medikamentierung mit Dopamin bei atypischen Parkinson-Erkrankungen immer mehr nach bis zur völligen Wirkungslosigkeit. Dieser Artikel befasst sich mit dem Zusammenhang von Dopaminmangel, AD(H)S und Morbus Parkinson. Dopamin – Ursache für Parkinson, Schizophrenie und ADS? | gesundheit.de
(3) Fatigue (= Erschöpfungssyndrom)
Folgende Symptome sind charakteristisch für das Erschöpfungssyndrom: anhaltende Müdigkeit und Erschöpfung, oft unabhängig von der Dauer des Schlafes, abnehmende Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, Antriebslosigkeit, Kopfschmerzen, depressive Grundstimmung, Tagesmüdigkeit, die Aktivitäten stark einschränkt.
Anmerkung: Ein Hinweis auf den geringen Bekanntheitsgrad meiner Erkrankung ist, dass die Fatigue als eines der zahlreichen Krankheitssymptome für (atypische) Parkinsonerkrankungen unerwähnt bleibt.
(4) Pflichtteil
Existiert kein Testament oder Erbvertrag, regelt die gesetzliche Erbfolge des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) die Rechtsnachfolge eines Verstorbenen.
Auch wenn Sie bestimmte Angehörige in Ihrem Testament nicht bedenken oder sogar ausdrücklich enterben, sichert der Gesetzgeber einem engen Personenkreis einen sogenannten Pflichtteil zu. Einen Anspruch darauf haben: Ehegatte oder eingetragener Lebenspartner, Abkömmlinge: leibliche Kinder, Adoptivkinder und Enkel (sofern deren Elternteil, was vom Erblasser abstammt, bereits verstorben ist), Eltern des Verstorbenen (falls keine Abkömmlinge existieren). Der Pflichtteil entspricht der Hälfte des gesetzlichen Erbteils und bemisst sich nach der Höhe des zum Zeitpunkt des Todes vorhandenen Nachlasses. Der Pflichtteil wird in Geld ausgezahlt. Quelle: Das Erbrecht in Deutschland - ShelterBox Germany
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